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Bischof von Charkiw: „Heute kommen die Menschen in die Kirche“

Bischof Wasyl Tutschapez, der das griechisch-katholische Exarchat von Charkiw leitet, über das Leben in der ostukrainischen Millionenstadt Charkiw, die von den russischen Truppen hart attackiert wird.
Frau in der umkämpften Region Charkiw
Foto: IMAGO/RIA Novosti (www.imago-images.de) | Das alltägliche Elend in der umkämpften Region Charkiw ist dieser Frau ins Gesicht geschrieben.

Exzellenz, die Stadt Charkiw ist derzeit im Fadenkreuz der russischen Aggression. Versucht Russland die Stadt zu erobern oder zu zerstören?

Ich denke nicht, dass der Aggressor die Stadt erobern will, denn dazu bräuchte Russland enorme Ressourcen. Ein Militärexperte meinte jüngst, dazu bräuchte es rund 500.000 Soldaten. Es geht um Psychoterror: Der Angreifer will die Menschen terrorisieren, um sie in Erschöpfung, Verzweiflung und Angst zu versetzen und Unruhe in die zweitgrößte Stadt der Ukraine zu bringen.

Ist diese Strategie erfolgreich? Machen sich Verzweiflung und Panik breit?

Ja, diese Strategie wirkt. Die Angst und die Sorgen sind zu spüren. Immer mehr Menschen, vor allem Frauen und Kinder, verlassen die Stadt und die unter starkem Beschuss liegenden Dörfer ringsum sowie im Grenzgebiet. Viele Menschen in den Grenzgebieten wurden evakuiert. Vor allem bemüht man sich, alle Kinder zu evakuieren, aber die älteren Menschen bleiben dort. Russland wendet die neue, böse Taktik an, ein Ziel zu beschießen und dann, wenn die Rettungskräfte dorthin gekommen sind, neuerlich dasselbe Ziel unter Beschuss zu nehmen. Deshalb sind auch viele Feuerwehrleute ums Leben gekommen. So wurde zuletzt ein Wärmekraftwerk beschossen, wo bei einem zweiten Angriff viele Rettungskräfte zu Tode kamen. Bei jedem Beschuss sterben Menschen. Am vergangenen Samstag nahmen die Aggressoren ein Krankenhaus unter Beschuss.

"Russland wendet die neue, böse Taktik an,
ein Ziel zu beschießen und dann, wenn die
Rettungskräfte dorthin gekommen sind,
neuerlich dasselbe Ziel unter Beschuss zu nehmen"

Wie wirkt sich das auf den Alltag aus? Wie können die Kinder in dieser Lage weiterhin Kindergärten und Schulen besuchen?

Wegen der intensiven Angriffe sind alle Strom- und Wärmekraftwerke beschädigt. Strom gibt es immer nur stundenweise, damit die Menschen das Nötigste erledigen können. In manchen Stadtteilen gibt nur mehr kaltes Wasser. Seit dem Beginn des Krieges sind alle Schulen und Kindergärten geschlossen. Zunächst wurde online unterrichtet, dann hat der Bürgermeister den Unterricht in die U-Bahn-Stationen verlagert. Hier werden die Kinder in zwei Schichten unterrichtet. Nun versucht man Bunker für den Unterricht zu bauen.

Gibt es noch so etwas wie ein reguläres Arbeitsleben?

Charkiw hat noch rund eine Million Einwohner, da beeinflusst die Zerstörung der Energieversorgung das tägliche Leben natürlich enorm. Für die großen Unternehmen ist die Lage fast unmöglich, nur die kleinen Betriebe versorgen sich teilweise mit einem Generator. Einige arbeiten in der Nacht, wenn es Strom gibt. Es gibt noch Medikamente in den Apotheken, aber viele ältere Menschen haben kein Geld dafür und kommen dann zu uns, um nach Hilfe zu fragen.

Auf welche Weise kann Ihre Kirche den Menschen humanitär, sozial und psychisch beistehen?

Wir machen keinen Unterschied: Alle Menschen, die zu uns kommen und humanitäre Hilfe brauchen, bekommen, was in unseren Kräften steht. Auch Muslime kommen zu uns. Es kommen aber auch mehr und mehr Menschen, die um die Sakramente bitten! In der Vorwoche etwa bat mich eine Frau um die Taufe ihres Kindes, obwohl sie der russischen Orthodoxie angehört und neben der orthodoxen Kirche wohnt. Aber ihr Kind will sie hier bei uns taufen lassen.

Die Not ist so groß, dass Ihre Möglichkeiten zur humanitären Hilfe unzureichend sein dürften?

Das ist wahr, unsere Ressourcen sind sehr begrenzt. In den vergangenen Monaten ist die humanitäre Hilfe aus dem Ausland stark zurückgegangen. Wir suchen aktiv, aber es kommt wenig. Aber ich kann noch immer sagen, dass die Menschen, die nichts haben und zu uns kommen, nie mit leeren Händen fortgehen.

"In den vergangenen Monaten ist die humanitäre
Hilfe aus dem Ausland stark zurückgegangen"

Was macht dieser Krieg und all das Leid mit dem geistlichen Leben der Menschen? Gibt es neue Bekehrungen oder wachsen auch Glaubenszweifel?

Charkiw war vor dem Krieg stark säkularisiert, auch nach der Zeit des Kommunismus. Viele Menschen hatten keinerlei Interesse am Leben der Kirche, auch wenn sie aus einer orthodoxen Tradition kamen. Heute dagegen kommen die Menschen in die Kirche, wenn jemand stirbt oder an der Front gefallen ist. Aber es kommen auch Gottsucher!

Wie steht es hier um die Zusammenarbeit der christlichen Kirchen, insbesondere mit der vom Moskauer Patriarchat weiter abhängigen „Ukrainisch-Orthodoxen Kirche“ (UOK)?

Diejenigen Priester und Bischöfe, die sich der russischen Ideologie angeschlossen haben oder kollaborierten, haben teilweise das Land verlassen und sind jetzt in Russland. Manche sehen sich auch mit Gerichtsverfahren konfrontiert, vor allem wenn Kollaboration mit der russischen Armee nachgewiesen wurde, etwa indem sie Stützpunkte der ukrainischen Truppen verrieten. Es gibt aber auch Priester, die im Land blieben und die Ukraine unterstützen. Wir haben aber keine Zusammenarbeit mit der „Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats“ – weder vor dem Krieg noch jetzt. Ihnen ist es auch nicht gestattet, mit uns gemeinsam zu beten. Jetzt hat diese Kirche aber keinerlei Unterstützung aus der Regierung oder aus der Bevölkerung mehr.

Bischof Wasyl Tutschapez leitet das griechisch-katholische Exarchat von Charkiw
Foto: Baier | Bischof Wasyl Tutschapez leitet das griechisch-katholische Exarchat von Charkiw.

Gibt es eine Zusammenarbeit mit der vom Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios gegründeten autokephalen „Orthodoxen Kirche der Ukraine“ (OKU), etwa in sozialen und humanitären Fragen?

Ich habe bisher nichts davon gehört, dass diese Kirche eine soziale oder humanitäre Arbeit leisten würde – im Gegensatz etwa zu den Protestanten. Dazu kommt, dass die Geistlichen dieser autokephalen Orthodoxie sich als die Herren in der Region sehen, als Vertreter einer Staatskirche. Sie sehen uns als Konkurrenz. Das betrifft die Zusammenarbeit: Auf der persönlichen Ebene können wir gut miteinander reden, aber bei offiziellen Veranstaltungen nicht. So sind sie aus dem Gebet für die Einheit der Christen ausgestiegen.

Auf staatlicher Ebene scheint es aber eine Zusammenarbeit im „Gesamtukrainischen Rat der Kirchen und Religionsgemeinschaften“ zu geben.

In diesem Rat funktioniert es. Aber das ist der einzige Ort, an dem eine Zusammenarbeit sichtbar wird. Sonst haben wir als griechisch-katholische Kirche überall in der Ukraine Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit der OKU, weil sie sich mehr und mehr als Staatskirche sieht. Darum ist die Zusammenarbeit kaum möglich.

Wie geht es Ihren eigenen Priestern im griechisch-katholischen Exarchat Charkiw in diesem Krieg?

Ich habe insgesamt 25 Priester, zwei Ordensmänner und fünf Ordensschwestern. Einer meiner Priester hat am vergangenen Sonntag in einem Dorf der Grenzregion während der Liturgie den russischen Beschuss der Ortschaft ganz laut gehört und die Explosionen gesehen. Natürlich beeinflusst das die Psyche. Viele Menschen sind extrem dankbar, dass die Priester bei ihnen geblieben sind. Es beruhigt die Menschen, wenn ein Priester sie besucht und die Liturgie mit ihnen feiert.

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Stephan Baier Bischöfe Christliche Kirchen Taufe

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